Urban Design Project. Research and Design I extra–muros Prozesse der Veraushäusigung – Ökonomien des Wohnens 2008/2009

ex|tra mu|ros [lat. = außerhalb der Mauern] (bildungsspr.): draußen, außerhalb; in der Öffentlichkeit. © Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl. Mannheim 2006 [CD-ROM]


Iliacos intra muros peccatur et extra (lat.) Innerhalb und außerhalb der Mauern von Troja wird gesündigt. = Auf beiden Seiten (überall) werden Fehler gemacht. Horaz »Episteln« (1. Buch, 2, 16).


Extramural „existing or functioning outside or beyond the walls, boundaries, or precincts of an organized unit“ Merriam-Webster Online Dictionary


extramural {adj} außerhäusig dict.cc Online-Wörterbuch Englisch-Deutsch


Gesellschaft In Bewegung


„Afrika ist auf Arbeitssuche. Europa macht Urlaub“ Holert/Terkessidis


Die Gründe, warum immer mehr Menschen gezwungen sind mobil zu sein, sind vielfältig. Oft steht dabei die räumliche Veränderung in direktem Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit. Ob unterwegs zum Job, im Job oder zum Ausspannen dazwischen – Arbeit produziert Bewegung.
Auf täglichen Routen, der Geschäftsreise, oder der Reise in den Urlaub, den Möglichkeiten räumliche Grenzen zu überwinden, sind kaum Grenzen gesetzt. Die bereitstehende Infrastruktur erlaubt immer eine schnelle Verbindung und das in allen Dimensionen: Billig-Airlines, Hochgeschwindigkeitsnetze von Bahn und Autobahn, hochleistungsfähige Datennetze. Nichts ist leichter, als schnell weg zu sein.
Auch die Reise als solche stellt kaum mehr eine Beschränkung des Reisenden dar. Dank immer ausgereifterer Gadgets werden auch die Tätigkeiten des Alltags auf diesem Transfer nicht wesentlich beeinträchtigt. Im Gegenteil, diese kleinen Hilfsmittel vermitteln mit ihren wohl gestalteten Oberflächen nicht nur das Gefühl von Individualität und mobiler Privatheit, sie unterstützen auch das Gefühl immer und überall präsent zu sein, in Beziehung zu stehen. Ob privat, geschäftlich, oder gar unbekannterweise ist dabei nachrangig. Wichtig ist, präsent zu sein – wenn auch nur ‚on air’.
Interessant in diesem Zusammenhang ist ein seit kurzem beobachtetes Phänomen, dass sich unerwartete »persönliche« Anrufe häufen. Wenn sich z.B. der Geschäftsreisende auf seinem Trip in New York der entfernten Tante in Blankenese erinnert, bei der er sich ja schon lange einmal melden wollte. Wenn damit etwa ein Zeichen des Verlusts von Heimat und Verbundenheit beim Einzelnen zum Ausdruck käme, welche Entwicklung zunehmenden Inbewegungseins seiner Mitglieder hätte dies für eine Gesellschaft zur Folge?
Mobilität ist zum zentralen Charakteristikum einer flüssigen Moderne geworden, wie dies Zygmunt Baumann beschreibt. Bewegung wird zu einem Dauerzustand und damit zu einem Wert an sich. Wenn wir nun feststellen, dass nahezu alle Lebensbereiche von den wachsenden Mobilitätsanforderungen geprägt sind, müssen wir uns dann nicht fragen, wie diese darauf zurückwirken? Verflüssigt Bewegung unsere gesellschaftlichen Strukturen?
Es gilt zu untersuchen welche Anforderungen eine mobile Gesellschaft hinsichtlich des Wohnens hat. Kann die Annahme, Wohnen sei ein Akt der physischen Immobilität (man „hat“ eine Wohnung) so aufrechterhalten werden oder beginnt sich das Wohnen als Funktion selbst zu verflüssigen, also extramural, zu veraushäusigen?
Der Begriff ‚extra-muros’ bezeichnet mit dem ‚außerhalb der Mauern’ alles Unbekannte, Unsichere, und Feindliche. Darin impliziert ist eine stadtgesellschaftliche Ordnung innerhalb der schützenden Mauern: ‚intra-muros’. Wenn wir unter den Mauern nicht nur die der Stadt verstehen, sondern auch die des Hauses, so bezieht diese Ordnung auch die Ordnung der innewohnenden Gemeinschaften mit ein.
Die Ordnungen beider Maßstäbe scheinen heute allenfalls in Auszügen oder zeitlichen Abschnitten verfügbar. In unserem Unterwegssein jedoch nehmen wir offensichtlich nur die eigene Bewegung war. Die Stadt jedenfalls steht für ihre Immobilität.Wie sollten wir auch Anzeichen ihrer Verflüssigung wahrnehmen können? Wer etwa würde annehmen, dass eine Stadt wie Hamburg (die ‚wachsende’) statistisch nur elf Jahre braucht, um ihre Bewohner einmal komplett auszutauschen?


Eine Gesellschaft in Bewegung, die sich den Anschein einer soliden Stabilität gibt, wirft Fragen auf – für den Einzelnen, wie für Gemeinschaften.
Mit unserem Jahresthema möchten wir dazu anregen, sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen – nicht mit dem Großen/Ganzen/Komplexen, sondern auf der Ebene des Alltäglichen. Wir widmen uns basalen Dingen des Lebens. Es geht um: Essen/Trinken/Wärme/Notdurft/Hygiene/Schlafen/Sexualität/Gemeinschaft/körperliche Bewegung. Entscheidend dabei ist, den Maßstab des Wohnens zu erweitern, Wohnen gleichsam als gelebte Praxis in der Gegenwart zu verstehen. Es geht um Formen des veraushäusigten Wohnens. Wohnen in Bewegung. Wohnen unterwegs.


Das »Wohnen außer Haus« hat in Japan andere kulturelle Ausprägungen in einen städtischen Alltag erfahren. Die Gründe für die Auslagerungen von Wohnfunktionen dort, sind gleich und doch grundverschieden. Auch dort ist der Job Ursache, alltägliche Distanzen zu bewältigen. Das Leben läuft in steter Bewegung ab und wird in einer nahezu ritualisierten Ordnung vollzogen. Bereits Mitte der achziger Jahren, hat diese städtische Lebensform den Begriff des Stadtnomaden hervorgebracht.
Die Ursachen für eine starke Reduktion der Funktionen innerhalb der Wohnung, bis auf reine Schlaf- und Lagerfunktion, ist zurückzuführen auf die horrenden Bodenpreise in Tokyo.
Mit dem Verlassen der Wohnung entfernt sich man sich zwar von der privaten Lagerfläche, doch wird man im Laufe des Tages viele Orte aufsuchen und Angebote nutzen, deren Funktion und Fläche fehlenden Wohnraum kompensiert. „Das „Wohnen“ findet in Form von mehreren isolierten, temporären Ereignissen statt, die nicht unbedingt mit einem bestimmten Ort oder Platz verbunden werden.“ (Arch+ Wohnen außer Haus). Die unterschiedlichen Wohnfunktionen werden so über den Tag verteilt fragmentiert konsumiert.
Die Grundlage einer solchen Entwicklung ist in einer Tradition japanischer Wohnkultur begründet. Es geht in erster Linie darum einen offenen Raum zu schaffen, der sich zu seiner Umgebung verhält (Pavillon), nicht so sehr darum, ein Programm- und Funktionsschemata zu erfüllen. „Zum Schlafen wird der Futon ausgerollt, zum Essen stellt man sich ein Tischchen auf. Gebadet wird außerhalb, im Sento, dem Gemeinschaftsbad, das als eine Art kommunales Zentrum fungiert.“ Das entscheidende ist, Wohnfunktionen sind nicht zwangsläufig an bestimmte Räume oder gar das Haus gebunden.


„Impossible de immobiliser l’urbain. Le fixer c’est le tuer“ Lefebvre Prodution de l’espace s.445,386


Das entscheidende aber ist die Einbeziehung der Relation Innen zu Aussen in eine Konstituierung von Raum; d.h das metaphysische Verhältnis zum Raum ist ein anderes. Die Voraussetzung einer ständigen Regulierung des Raums ist gegeben und wird ständig ausgeübt. Auf die Maßstabsebene des städtischen übertragen bedeutet dies, die Bewegung, die Offenheit wird zum Konstituens, zur Bedingung von Stadt.
Wie aber geht eine europäische Kultur, die entscheidend geprägt ist von der Unterscheidung des Innen und des Aussen, des intra- und extra-muros, mit einer zunehmenden Überwindung/Auflösung dieser Grenzen um?


Es gilt zu fragen, welche neuen Muster beobachtet werden können, welche Typen von Wohnungspraktiken entstehen, welche Formen der Ökonomien sich situationsspezifisch bilden. In wieweit sind die Verflüssigungen Teil einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Lebens(Wohn-)weisen.
Um der Vielschichtigkeit der neuen Funktionen, Strukturen und Formen auf die Spur zu kommen, wird es nötig sein Methoden der Untersuchung neu zu bilden und/oder spielerisch zu mischen. Das Phänomen Mobilität im Konnex von Wohnen ist zum einen in seinen Konsequenzen zu erfassen und zum anderen auf die Entwicklung praktischer Gestaltungsansätze hin „angewandt“ zu erforschen.
Wir eröffnen einen Diskurs, an dessen zentraler Stelle der Begriff des Wohnens als Praxis steht. Diskurs bedeutet etymologisch: in Bewegung sein, Gedanken in Bewegung zu setzen. Das heißt auch: die Veränderung einer diskursiven Formation wirkt auch auf das Subjekt zurück. Der Diskurs, als Ensemble von Aussagen, die einem Formationssystem angehören, eröffnet einen Raum differenzierter Positionen und Funktionen, die das Subjekt zu bestimmten Bedingungen einnehmen muss. Diskontinuität wird dann zu einer Operation, die zugleich Instrument und Gegenstand der Untersuchung ist. Die Untersuchung beschreibt nicht allein die Struktur der einzelnen Episteme, sondern die Brüche zwischen verschiedenen epistemischen Feldern.
extra-muros > take 1 > roadmovie hamburg


Roadmovie The genre has its roots in spoken and written tales of epic journeys, such as the Odyssey and the Aeneid. The road film is a standard plot employed by screenwriters. It is a kind of bildungsroman, a kind of story in which the hero changes, grows or improves over the course of the story. The modern „road picture“ is to filmmakers what the heroic quest was to Medieval writers. en.wikipedia.org/wiki/Road_movie


Aufgabe
Drehen Sie ein Roadmovie in Hamburg. Gegenstand und Thema ist das Wohnen in Bewegung – Wohnen unterwegs. Es geht um Formen des veraushäusigten Wohnens und um die Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse: Essen, Trinken, Wärme, Notdurft, Hygiene, Schlafen, Sexualität, Gemeinschaft, Bewegung…


Bilden Sie zwei Teams.
Team A entwickelt in der Gruppe die Idee und das Storyboard. Eigenschaften von Orten und Bewegungen werden definiert und recherchiert. Nutzen Sie Stadtpläne, Google Earth, sammeln Sie Informationen auf den Ihnen bekannten Wegen. Organisieren Sie den Ablauf, die Videokamera und drehen Sie Ihren Film nach Ihrem Storyboard. Bearbeiten Sie ihn nach.
Team B organisiert sich eine Videokamera und beginnt zu drehen. Schauen Sie sich immer wieder das Material an, greifen den Faden auf, entwickeln Sie weiter, drehen Sie. Im Prozess entwickelt sich der Plot. Kein Plan – Aktion direkt. Der Filmschnitt wird parallel dazu mit ausgeführt.

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